Unser Autor ist auf der Straße groß geworden, der Berliner Hermannplatz war sein Wohnzimmer. Eine Geschichte von Gewalt, Drogen und Zusammenhalt.
Samuel Andreas 14.5.2023, 11:23 Uhr
Ich freue mich, ihn zu sehen. Zugleich schlägt unsere Begegnung wie eine Bombe in meine Gegenwart ein. Eben noch sitze ich an meinem Macbook, pünktlich zum Mittag will ich los, einkaufen im Bioladen. Nun steht Pascal vor mir. Und mit ihm mein altes Leben. Mitte der Nuller Jahre leben mehrere tausend Kinder und Jugendliche auf der Straße. Heute sind den Schätzungen des Deutschen Jugendinstituts zufolge mindestens 6.500 Unter-18-Jährige obdachlos. Sie würden am ehesten durch die sogenannten Überlebenshilfen aufgefangen, heißt es. Das ist ein feststehender Begriff für Essen, Schlafsack, Dusche und Ähnliches.
Später wird der Alltag etwas lockerer. Ich lerne eine liebe Therapeutin kennen und stehe die Zeit durch, zwei Jahre. Doch ich schaffe es nicht, drogenfrei zu leben. Als ich wiederholt rückfällig werde, muss ich gehen. Auch, weil stationäre Jugendeinrichtungen sich nicht mehr in der Verantwortung sehen, wenn ihre Schützlinge erwachsen sind.
Wir trinken, lachen, und manchmal steigen die Fans von Dynamo Dresden aus dem Zug, um uns zu verprügeln. Es ist egal, ob sie ihr Fußballspiel verloren oder gewonnen haben. Das macht denen einfach Spaß. Am Hermannplatz leben wir in einer Parallelwelt. Das große Einkaufszentrum, Karstadt, ist unsere Basis. Die umliegenden Hausflure, Dachböden und Keller unser Bett. Den Menschen das Geld aus der Tasche zu fragen, ist unsere Arbeit. Freundlich, zuvorkommend, „bitte“, „danke“ und nicht zu aufdringlich. Jeden Tag und ohne Urlaub. Dieser Job ist für beide Seiten nicht leicht zu ertragen, schätze ich. Manchmal klauen oder dealen wir auch.
Björn von H.: Dort arbeiten Björn und ich mit Goldlöckchen im Schichtdienst. Mit Björn verstehe ich mich anfangs nicht gut. Er gehört wie ich zu den Jüngeren, aber er ist mir zu weich, zu schlau. Bevor er wegen Depressionen auf der Straße landete, hat er eine Familie gegründet. Er hat sogar studiert. Und so redet er auch. Überhaupt will Björn immer alles mit Worten klären. Unsere Beziehung ändert sich jedoch im Laufe der Zeit.
Meine Biografie ist vom jeweiligen Gegenteil dieser Worte durchsetzt: Verurteilung, Ungleichheit und Armut. Ich drehe mir erst mal eine Zigarette und atme. Danke, Heroin, dass du mich vor einem Nervenzusammenbruch bewahrst. Diese Droge wirkt nach Gewöhnung nur kurz berauschend, aber durchgängig gefühls- und schmerztötend.
Dann der Refrain: „Zwischen Demut und Größenwahn /All die Probleme, die zu lösen waren / Gott, vergib uns, weil wir böse waren / Auf der Straße aufgewachsen wie Löwenzahn.“ Zum Glück ist der Vorraum der Sparkasse relativ warm. Dort kann ich mich im Winter ab und zu aufwärmen. Nachts kommt aber die Sicherheit vorbei, dann finde ich Unterschlupf auf Dachböden oder penne auf den obersten Etagen in Hausfluren. Aus den Mülltonnen hole ich Material und baue ein Bett aus Styropor und Pappe. Die BVG öffnet im Winter manche U-Bahnhöfe über Nacht für Obdachlose. Manchmal suche ich dort Zuflucht.
Wir brauchen ein Krankenhaus für Obdachlose. Es kann nicht sein, dass Menschen am lebendigen Leibe verwesen Nun plötzlich Vorfreude. Wegen dieser Frau denke ich manchmal schon Montag an Mittwoch. Das ist anders und schön. Es geht nicht um die Frau persönlich, sondern um die Zuwendung. Das Essen durchbricht meine Einsamkeit. Da denkt jemand an mich.
Nach Monaten habe ich beides, ich melde mich zur Entgiftung an. Flöckchen gebe ich am Hermannplatz bei Jürgen in Obhut. Am Bahnhof verabschieden wir uns. Ich drücke meine Hand von innen an die Scheibe der U7. Vier Jahre waren wir nie länger als ein oder zwei Stunden voneinander getrennt. Ohne sie wegzufahren, fühlt sich an, als würde ich einen Teil meines Körpers dalassen.
Ganz bedingungslos arbeitet auch dieses Modell nicht. Läuft jemand mit Decke umwickelt durch die Straße und redet wirr, dann ist er oder sie zu krank für Housing First. Ich bin weder stabil genug, um zu arbeiten, noch bereit, nur noch in betreuten Einrichtungen zu leben. Nach zwei Jahren kümmert sich ein Sozialarbeiter ehrenamtlich um mich. Er hilft mir dabei, eine eigene Wohnung zu suchen. Drei Monate später finde ich eine Bleibe. Als ich den Mietvertrag unterschreiben kann, beichte ich, dass ich einen Hund habe. Das hatte ich verschwiegen, weil meine Chancen dadurch noch geringer sind.
Ansonsten schleppe ich mich von Tag zu Tag und bin froh, wenn es Abend wird. Dann kann ich schlafen. Ich komme über die Runden. Aber in dieser neuen Welt fühle ich mich unwillkommen, ungeeignet. Ich sehne mich häufig nach einem Leben im Rausch und zu meiner Straßenfamilie zurück.
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